6. Workshop "Archive von unten" pdficon_large.gif

Berlin, 14. und 15. Juni 2012
Im Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.
An diesem Workshop nahmen 33 TeilnehmerInnen aus 22 Einrichtungen teil.

Inhalt

AG Digitalisierung

Moderation: Eva Danninger; Protokoll: Simon

Stand der Arbeitsgruppe, die seit dem 5. Workshop mehrmals tagte: Ausgangslage: Digitalisate sind in vielen Archiven vorhanden oder entstehen. 2011 vorgestellte Digitalisierungssoftware Goobi erfüllt die Bedingungen der Archive nicht ausreichend: für viele Archive geht es nicht um ein (kompliziertes) Tool zur Digitalisierung, zudem ist die Betreuung von Goobi - wie bei den meisten ähnlichen OpenSource Projekten - nach dem Aufsetzen der Standardsoftware in einem gemeinnützigen Projekt an eine Firma übergeben worden, die dafür (etwas) Geld verlangt. Ziel: Portal der gemeinsamen Archivewebsite (bewegungsarchive.de) Vorschlag fünf mögliche Säulen

  • a) Archiveverzeichnis
  • b) Wiki
  • c) Repositorium für Digitalisate:
  • d) Kommunikationsplattform
  • e) Metadaten-Portal ("Datenbank der Datenbanken")

zu a) Vorstellung, Adresse/Link - ähnlich oder übernommen von der website des afas Duisburg

zu b) Einträge zu Technik, Juristischen Fragen, Termine, Weiterbildung etc., Workshop der Archive von unten, Downloads mit Handreichungen u.ä. Fragen: wer kann beitragen, wer will beitragen, wie offen ist das Wiki? Debatte/Fazit: keine Bereitschaft erkennbar, ein Wiki sinnvoll zu füllen

zu c) Goobi erwies sich als Instrument für Fachleute; Alternative wäre Dspace, Vorteile: komplett kostenfrei (da von einer USA-basierten Stiftung getragen), kann auch mit A/V-Medien umgehen (im Gegensatz zu Goobi), sehr einfach zu bedienen, viele individuelle Einstellungen mgl. Erschlossen wird nach Dublin Core (Bibliotheksstandard), der anpassbar ist, dem sich aber auch die teilnehmenden Archive bei den hier eingestellten Daten anpassen müssten; Lizenzgebühren (ca. 50 $ pro Jahr) fallen für handle-prefix (eine eindeutige Kennung des Dokumentes) an, die von einer US-Stelle vergeben werden; möglich wäre eine Kooperation mit dem Bibliotheksverbund-Katalog GBV (Kostenersparnis, da Lizenzgebühr und Serverkapazitäten von diesem übernommen würden) Debatte: Frage der Abhängigkeit von IT-Abteilung des GBV; Zusammenarbeit mit staatlicher Stelle (GBV) nicht in allen Archiven unproblematisch; Speicher auf GBV-Servern entzieht die Kontrolle über die Materialien ein Stück weit den Archiven von unten (nicht alle wären dazu bereit) Digitalisate sollten erst einmal nur "Appetitanreger" sein, die die NutzerInnen zu den Archiven selbst hinführen (Öffentlichkeitswirksamkeit); Einwand: das wäre bei youtube oder anderen kommerziellen Anbietern viel wirksamer zu platzieren als auf einer sowieso schon archivthematischen Portalseite... aber der Umgang von youtube u.a. mit den Daten und der Datensicherheit ist grundsätzlich abzulehnen Dspace bräuchte keine Archiveportalseite als Basis, ließe sich auch unabhängig davon umsetzen Fazit: muss weiter diskutiert werden, scheint aber nicht vordringlich

zu d) Blog, Forum zum Austausch; Frage: wie öffentlich zugänglich? Debatte: interaktive Nutzung erfordert Admins und Moderator_innen und/oder Redaktionsteam (evtl. Infonauten e.V.); öffentlicher und geschlossener Bereich sollten getrennt werden Fazit: keine Bereitschaft seitens der Archive, diese Funktion wirklich zu nutzen, die vorhandene Mailingliste genügt fürs Erste den Erfordernissen (mindestens denen des "geschlossenen" Bereichs) ? nicht vordringliche Aufgabe

zu e) Problem: Standardisierung der Metadaten (z.B. Verschlagwortung); Anpassung des jeweils vorhandenen Ausgangsformats an die Portal-Datenbank ist technisch u.U. aufwändig - eine Aufgabe für SpezialistInnen Debatte: zu viel Aufwand besonders für die kleinen Archive

Debatte insgesamt: Finanzierung einer Portalseite würde ca. 10.000 Euro an Projektmitteln benötigen (zum Anschub bzw. zur Erstellung), das müsste mit einem großen Antrag besser zu schaffen sein, als mit vielen kleinen Angängen, also nur als Komplettlösung sinnvoll Fazit: Die weiter bestehende AG Digitalisierung bastelt weiter an einem Pilotprojekt, zu dem dann einzelne Archive zusteigen könnten.

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AG Vor- und Nachlässe

Moderation: Cornelia Wenzel; Input: Reinhart Schwarz; Protokoll: beide

Das Thema Vor- und Nachlässe wurde in früheren Workshops schon gelegentlich gestreift. Wir stellen fest, dass wir zunehmend damit konfrontiert sind. Das hängt einerseits mit dem biologischen Faktor "Generationabfolge" zusammen und wird andererseits verstärkt durch die Auflage der politischen Exekutive, dass sich staatliche und kommunale Archive strikt auf ihre Kernaufgaben konzentrieren sollen. Freie Archive werden daher künftig einer noch stärkeren Nachfrage gegenüber stehen. Es gibt aber natürlich auch sowieso viele, die ihre Hinterlassenschaften nur uns anvertrauen wollen.

In der AG wurde auf folgende Themengebiete eingegangen:

  • a) Definition, Abgrenzung zu anderen Sammlungen
  • b) Fragen der Beschaffung
  • c) Bewertung
  • d) Erschließung
  • e) Findbuchpublikation / Rechtsfragen

zu a) Definition, Abgrenzung zu anderen Sammlungen Nicht alles, was uns von wohlmeinenden Menschen ins Archiv getragen wird, ist ein Nachlass. Die wohl überall bekannten Kartons und Tüten mit einer Mischung aus Büchern, Broschüren, Kopien, Zeitungsausschnitten u.v.a.m., die uns oft vorbeigebracht oder vor die Tür gestellt werden, sind keine Vor- oder Nachlässe, auch wenn sie von einer bestimmten Person oder Gruppe stammen. Diese Materialien werden an den passenden Stellen thematisch oder nach Dokumentarten zugeordnet, aber nicht als Nachlass beisammen gelassen und gehütet. Ein Vor- oder Nachlass sollte von einer vom jeweiligen Archiv als relevant eingestuften Person oder Gruppe stammen und in möglichst großem Umfang Unikate enthalten, also etwa Korrespondenzen, Manuskripte, Protokolle etc. Natürlich sind meist auch Fotos, Flugblätter, Plakate, Zeitschriften, Bücher usw. dabei. Aber eine reine Presseausschnittsammlung würde z.B. nicht als Nachlass betrachtet. Entscheidend ist, dass ein Nachlass aussagekräftige Originalquellen über die Person oder Gruppe enthält. Ein solcher Bestand sollte, auch wenn sich die Quellen aus unterschiedlichen politischen Aktionsfeldern zusammensetzen, nicht auseinander gerissen werden. Findmittel oder insbesondere Datenbanken bieten hinreichend Instrumente, Verweise auf verschiedene inhaltliche Kontexte zu setzen.

zu b) Fragen der Beschaffung Gelegentlich werden uns Nachlässe angeboten, häufig müssen wir aber selber dafür sorgen, dass wir sie bekommen. Dabei gilt: Frühzeitig mit Vorgesprächen anfangen. Erfahrungsgemäß braucht es Zeit, um mit den NachlassgeberInnen bzw. den ErbInnen ins Gespräch zu kommen, ein Vertrauensverhältnis zu schaffen, das Übergabeprocedere zu klären, Fragen von Nutzungsrechten und ggf. Zugangsbeschränkungen oder Sperrfristen zu regeln. Den NachlassgeberInnen muss klar sein, dass es sich um einen Übergang von Privateigentum in Öffentlichkeit handelt, deshalb ist es wichtig von Seiten des Archivs transparent zu machen, was das bedeutet. Wenn alles geklärt ist, sollte nach Möglichkeit ein Vertrag abgeschlossen werden, damit beide Seiten eine tragfähige Handlungsgrundlage haben. Auch die Benutzungsordnung sollte den NachlassgeberInnen vorgelegt werden.

zu c) Bewertung Bei der Entscheidung, ob ein Nachlass angenommen oder abgelehnt wird, sollte immer bedacht werden, in welchem Verhältnis der Aufwand zum Ertrag steht. Bei Unterlagen, die für das Sammelgebiet sehr bedeutsam sind, wird sicherlich auch ein größerer Bearbeitungsaufwand in Kauf genommen. Recht häufig tritt die Frage auf, ob auch Bücher in größerem Umfang bis hin zu ganzen Bibliotheken mit übernommen werden können. In aller Regel überfordert das Archive schon rein vom Platz her. Auch ist fraglich, ob der Informationswert, der sich in der spezifischen Zusammensetzung einer Bibliothek ausdrückt, tatsächlich groß ist. Die allermeisten Bücher wird man in der Regel in Bibliotheken finden. Eine Ausnahme könnte bei - intellektuell und politisch - besonders herausragenden Zeitgenossinnen oder -genossen gemacht werden. Aber auch hier ist eine Bibliographie ein guter Ersatz, wenn auch mit einiger Arbeit verbunden. Sind viele Anmerkungen in Verbindung mit Unterstreichungen in den Büchern, muss man das für die Frage der Überlieferung gründlich bewerten.

zu d) Erschließung Die Phasen der Ordnung und Erstellung einer Systematik wurden anhand von Beispielen aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung erörtert. Ausführlich diskutiert wurden Möglichkeiten, schon vor der intensiven Erschließung - für die ja oft die Zeit fehlt - Zugangsmöglichkeiten in Form von Übersichtslisten u.ä. zu schaffen. In jedem Fall sollte immer eine Prioritätenliste festgelegt werden: welche Bestände sind die wichtigsten und sollten möglichst bald erschlossen werden, was erfordert welche Erschließungstiefe usw. Ein Kriterium für eine bevorzugte und tiefere Erschließung könnte neben der "Prominenz" eines Bestandes ein bevorstehender "Jahrestag" sein. Den kann ein Archiv für die Eigenwerbung nutzen, indem es eine interessierte Öffentlichkeit und die Forschung mit einem informativen Findbuch zu einer vertieften Beschäftigung mit dem Ereignis oder den daran beteiligten Personen anregt.

zu e) Rechtliche Aspekte Rechtsfragen spielen bei Nachlässen in vielerlei Hinsicht eine Rolle, deshalb soll hier ein Kurzüberblick über die gesetzlichen Instrumente folgen:

  • Bundes- und Landesarchivgesetze wenn es um staatliche Archive geht -> sie handeln im gesetzlichen Auftrag
  • Archivsatzungen oder Benutzungsordnungen wenn es um nichtstaatliche Archivträger geht (zumeist betrieben als Verein oder Stiftung) -> sie handeln im eigenen Auftrag
  • Bundes- und Landesdatenschutzgesetze (BDSG / LDSG)
  • Recht auf informationelle Selbstbestimmung
  • Umgang mit personenbezogenen Daten durch den Staat und Dritte
  • betrifft nur lebende Personen
  • Persönlichkeitsrechte, die auch über den Tod (vertr. durch Erben) Wirkung behalten
  • Recht am eigenen Namen, § 12 BGB
  • Schutz der persönlichen Ehre, § 185 ff. StGB
  • Urheberrechtsgesetz (UrhG): Eigentum an geistiger Schöpfung
  • nicht übertragbares Recht, jedoch vererbbar
  • Verwertungsrechte liegen beim Urheber
  • Recht der Veröffentlichung (§ 12 UrhG)
  • der Vervielfältigung (§ 16 UrhG)
  • der öffentlichen Zugänglichmachung (§ 19 UrhG)
  • Schranken des Urheberrechts zum Nutzen der Allgemeinheit: Zitatrecht und Privatkopie, Sondernutzung im Bildungssektor sowie in Bibliothek und Archiv
  • Das Urheberrecht erlischt 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers
  • Bei anonymen oder verwaisten Werken 70 Jahre nach Entstehung oder Erstveröffentlichung
  • Vertragsrecht (BGB): Erwerb oder Schenkung von nichtstaatlichem Schriftgut und Drucksachen
  • Nutzungsrechte -> Teil des UrhG (hier auch Vergütungsansprüche, VG Wort, VG Bild)
  • Ausschließliches Nutzungsrecht
  • Nicht ausschließliches Nutzungsrecht

Verträge mit privaten NachlassgeberInnen beruhen auf BGB-Vertragsrecht und sind meist unproblematisch. Hier werden z.B. Publikationsrechte und mit den GeberInnen vereinbarte Sperrfristen festgelegt. Schwieriger wird es beim Urheberrecht, weil hier die verschiedenen Öffentlichkeitsstufen (Archiv - Lesesaal - Publikation) zu beachten sind. Ggf. sind daher Auflagen zu beachten wie Anonymisierung von Personendaten, Zitierverbote etc. Ein besonderes Medium sind Datenbanken im Internet, weil sie die Verknüpfung von Informationen, die sich auf eine Person beziehen, ermöglichen, hier muss deshalb mit sensiblen Daten äußerst vorsichtig umgegangen werden.

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Plenum zum Selbstverständnis des Netzwerks Archive von unten

Moderation: Günther Siedbürger; Protokoll: Cornelia Wenzel

Bei der Organisation des Workshops 2011 hatte es einen Dissens bzgl. der Zielgruppe des Workshops gegeben: wer soll angesprochen und eingeladen werden? Ist der Workshop eine öffentliche Veranstaltung für alle Interessierten oder eher eine fachöffentliche für VertreterInnen aus den Bewegungsarchiven? Dient er in erster Linie der Vernetzung und dem Austausch oder steht die Fortbildung im Vordergrund? Vor allem die KollegInnen aus dem Grünen Gedächtnis hätten ihn gerne für weitere TeilnehmerInnen geöffnet, d.h. KollegInnen aus anderen Archiven, in denen Bestände aus den Neuen Sozialen Bewegungen sind und die damit arbeiten.

Diese Unstimmigkeiten waren im Abschlussplenum 2011 angesprochen worden, konnten dort aber nicht mehr ausreichend geklärt werden und wurden deshalb als ein Diskussionspunkt für den Workshop 2012 festgelegt.

Nachdem in einer Runde, in der sich alle äußerten, ein Meinungsbild erstellt worden war, lässt sich festhalten:

Die Einschätzung, wie intern bzw. offen der Workshop sein soll, ist nicht so unterschiedlich, wie es zunächst schien. Die meisten verstehen ihn ganz deutlich in erster Linie als Forum der Bewegungsarchive, wenngleich einige ihn auch für KollegInnen aus anderen Archiven öffnen würden. Doch war schließlich Konsens, dass gezielt über die bisherige Einladungsliste eingeladen wird und nicht darüber hinaus, z.B. über die "Marburger Liste". Auch StudentInnen sollen nicht ausdrücklich eingeladen werden. Mit "Passiv öffnen" kann die Haltung der meisten Teilnehmenden am besten beschrieben werden.

Wenn der Workshop wie bisher in den Räumen des Grünen Gedächtnisses stattfindet, steht die Ankündigung als Veranstaltung auch auf den Internetseiten der Böll-Stiftung.

Gäste werden nicht ausgeschlossen, aber auch nicht ausdrücklich zur Teilnahme aufgefordert.

Um den Workshop auch als Möglichkeit zur Öffentlichkeitsarbeit für Freie Archive zu nutzen, sollen weiterhin Berichte über die Tagung in verschiedenen Fach- und Szenezeitschriften publiziert werden.

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AG Nutzer/innen im Archiv

Inputs: Lars Müller (schriftlich) und Simon (persönlich); Protokoll: Anne Vechtel

Bestandserhaltung gegen Nutzer/innenorientierung, wie im Input von Lars herausgestellt, ist keine angemessene Beschreibung des Umgangs mit Dokumenten und Nutzer/innen im Archiv der Sozialen Bewegungen (ASB) in Hamburg. Die Zugänglichmachung hat hohe Priorität und für die Nutzung der Dokumente ist ausschlaggebend, ob sie systematisiert und beschrieben sind oder nicht. Das Bibliotheksgut kann deshalb uneingeschränkt genutzt werden. Archivgut ist bisher nicht zugänglich. Wenn es verzeichnet wäre, würde es zur Nutzung angeboten.

Sammlungsgut wie Plakate und Flugblätter sind zumindest schon einmal in einer Systematik sortiert, aber noch nicht verzeichnet. Sie werden zur Zeit digitalisiert und demnächst online angeboten. Die Digitalisierung ist auch eine Form der Bestandserhaltung, weil Nutzer/innen hauptsächlich nach elektronischen Dokumenten fragen. Fotos sind im ASB fast nur in digitaler Form vorhanden.

Die Bestanderhaltung ist noch kein so drängendes Problem, weil die Dokumente im ASB in Hamburg noch relativ jung sind.

Nutzer/innen kommen aus der politisch aktiven Szene, zum überwiegenden Anteil sind es aber nicht politische Aktivist/innen sondern professionelle Nutzer/innen wie Studierende, Wissenschaftler/innen und Journalist/inn/en.

Diskussion:

Die Nutzungsorientierung sollte als politischer Auftrag verstanden werden, da ansonsten die zeitgeschichtliche Forschung nicht umfangreich bedient werden kann, und die Geschichtsschreibung lückenhaft bleibt. Selbst eine flache und vorläufige Verzeichnung, die eine Nutzung möglich macht, ist besser als gar keine.

Historischer Auftrag ist es zudem, die analogen Originale zu erhalten und aufzuheben und sie auf gar keinen Fall nach einer Digitalisierungen wegzutun. Jede Art von Kopie kann fehlerhaft sein und das Original als Korrektiv muss erhalten werden.

Sperrfristen werden von den Archiven sehr unterschiedlich gehandhabt. Grundsätzlich befürworten die meisten Archive eine "open access Politik", bei einigen Ausnahmen.

Exkurs: Die Wende von analogen zu elektronischen Dokumenten, die sich Mitte der 1990er Jahre durchsetzte, wird zu einem Überlieferungsloch führen, das in den Archiven in nächster Zeit deutlich werden wird. Auch die Akzessionspraxis wird sich verändern müssen und vor allen Dingen von Archiven aktiv betrieben werden müssen. Dokumente werden nicht mehr abgegeben bzw. einfach bei Nacht und Nebel vor die Tür gestellt werden. Elektronische Unterlagen müssen von Archiven von Servern abgeholt werden.

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AG Archivierung audiovisueller Dokumente

Moderation: Nina Matuszewski; Protokoll: Dagmar Nöldge Inputs: Reiner Merker (Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, Jena); Christine Lamberty (autofocus videowerkstatt); Gaby Kellmann (autofocus videowerkstatt)

Schwerpunkte:

Wie archiviert man Tonkassetten, wenn keine Informationen zu ihrem Inhalt überliefert sind? Wie können Ton- und Filmdokumente für Archivnutzer_innen zugänglich gemacht werden? Welche Erfahrungen gibt es bei der Digitalisierung audiovisueller Dokumente?

Input von Reiner Merker zur Praxis im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, Jena: Es wird unterschieden zwischen:

  • Materialien aus Sammlungstätigkeit, oft ohne Titel- und Zeitangaben oder Personenangaben, wie z. B. Mitschnitte von Veranstaltungen und Konzerten
  • selbst erstellten Materialien, im Rahmen von Forschung und Aufarbeitung, z. B Zeitzeugengespräche oder Interviews.

Im Rahmen eines Digitalisierungsprojektes wurden alle Aufnahmen, oft in Form von Kassetten, digitalisiert und in WAF-Dateien übertragen. Es wurden Sicherungskopien auf dem File-Server hinterlegt und Kopien im MP-3-Format für die Nutzung in Verknüpfung mit der Datenbank hergestellt. Nebengeräusche wurden nicht herausgefiltert.

Die Erschließung von Dokumenten aus Sammlungstätigkeit ist auf Grund fehlender Angaben, schlechter Tonqualität zum Teil aufwändig und schwierig. Kontextrecherchen sind notwendig, um die Quellen ein- bzw. zuordnen zu können und Ort, Anlass, Personen und Thema zu ermitteln. Zudem gibt es oft mehrer Beiträge von unterschiedlichen Veranstaltungen auf einem Datenträger.

Beispiele:

  • Audioaufnahme eines Gottesdienstes im Rahmen der Friedensdekade 1988
  • Verdeckte Aufnahme eines Gesprächs zwischen zwei hauptamtlichen Mitarbeitern des Staatsicherheitsdienstes Januar 1990.

Das Institut für Zeitgeschichte arbeitet mit einer Allegro-Datenbank. Ein Mitarbeiter des Instituts erschloss im Laufe von ungefähr drei Jahren ca. 500 Kassetten. Jede Kassette stellt eine Verzeichniseinheit dar (ein Datensatz pro Kassette), auch wenn sich mehrere Beiträge auf einem Datenträger befinden.

Es taucht die Frage nach rechtlichen Aspekten auf, da es sich zum Teil um verdeckte Aufnahmen handelt. Reiner Merker gibt an, dass haupt- und nebenamtliche Mitarbeiter der Stasi nicht gegen die Veröffentlichung angehen können, während Beiträge von Oppositionsmitgliedern, falls gewünscht, für die Nutzung gesperrt würden.

Input von Christine Lamberty und Gaby Kellmann zur Digitalisierungs- und Erschließungspraxis bei autofocus videowerkstatt: Das Archiv umfasst circa 1.000 Videokassetten. Es handelt sich um eigenes Drehmaterial und Mitschnitte aus TV und anderen Medienkooperativen. 98 % davon ist VHS-Material, welches langsam kaputt geht.

Die Kassetten wurden mit einem eigenen Analog-Digital-Wandler in das AVI-Format übertragen und dann als DVDs auf 12 Festplatten abgelegt. Bei mehreren Beiträgen auf einer Kassette, wurden diese in entsprechende Teilaufnahmen geschnitten. Die formale und inhaltliche Erschließung ist abgeschlossen.

Die Datenbankmaske umfasst folgende Erschließungsfelder:

  • DVD-Nr.
  • Festplatten-Nr.
  • alte VHS-Kassetten-Nr. bzw. Signatur
  • Titel
  • Inhaltsbeschreibung
  • Datum
  • Schlagworte
  • Herkunft
  • Angaben zur Qualität
  • Produktion
  • Sprache
  • Länge

Christine Lamberty spricht die Problematik bei der Digitalisierung von Videobeiträgen bei autofocus an: Die Qualität der Kassettenbänder lässt langsam nach bzw. diese lösen sich auf und es fehlt Geld für die Anschaffung von neuen Festplatten für Sicherungskopien. Gaby Kellmann weist darauf hin, dass auch die Erwartungen der jüngeren Nutzer_innen an die Qualität der Aufnahmen gestiegen sei.

Nina Matuszewski regt an, dass autofocus den Analog-Digital-Wandler nutzt, um anderen Archiven Digitalisierungsdienste anzubieten und so die Mittel für die Anschaffung von neuen Festplatten einzuwerben.

Diskutiert werden Kosten, Formate und Dauerhaftigkeit von Datenträgern. Dabei wird auf die begrenzte Haltbarkeit von DVDs hingewiesen und auf die Notwendigkeit, die teuren Festplatten im Abstand von einigen Jahren zu ersetzen und die laufenden Festplatten regelmäßig zu bewegen bzw. hochzuladen.

Nina Matuszewski weist auf eine kostenlose Software für die Digitalisierung von Tonkassetten hin : Audiograbber.

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Plenum zum Umgang mit verbotenem Material

Moderation: Christoph Becker-Schaum; Protokoll: Jürgen Bacia Inputs: Günther Siedbürger (Hans-Litten-Archiv); Simon (Archiv der sozialen Bewegungen, Hamburg); Jens Dobler (Archiv des Schwulen Museums)

In diesem Plenum wurde schnell deutlich, dass der Begriff "verbotenes Material" die Verschiedenheit der Dokumente, um die es geht, nicht gut benennt. Deshalb war viel von schützenswerten, internen, sensiblen, heiklen, illegalen oder nicht-öffentlichen Dokumenten die Rede.

Drei Archive berichteten über ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit verbotenem Material:

Das Hans Litten-Archiv der Roten Hilfe

Das Archiv besitzt keine verbotenen Materialien, aber eine Sondersammlung mit den Unterstützungsanträgen, die an die Rote Hilfe gestellt wurden. Darin geht es häufig um Strafverfahren wegen "fortschrittlicher Aktivitäten", also Demonstrationsdelikte, Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Beamtenbeleidigung. Für die Antragstellung hat die Rote Hilfe ein Formblatt entwickelt. Beispielhaft wurde von einem Verfahren gegen einen Demonstranten berichtet, der einen Polizeibeamten als "Pisser" bezeichnet haben soll. Bei der Roten Hilfe landen aber auch Materialien zu szene-internen Konflikten, zum Beispiel zwischen Antideutschen und Antiimps. All diese Dokumente enthalten, auch wenn ihr Zustandekommen einen politischen Hintergrund hat, schützenswerte Informationen über betroffene Personen. Deshalb stehen sie nicht zur öffentlichen Nutzung zur Verfügung, sie sind sogar außerhalb des Archivs an einem sicheren Ort aufbewahrt. Die Rote Hilfe hat auch Sorge wegen des Missbrauchs bestimmter Tatbestände durch JournalistInnen. Darüber, ob die Materialien in ferner Zukunft zugänglich sein sollen, besteht in der Roten Hilfe keine Einigkeit.

Das Archiv der sozialen Bewegungen Hamburg

Ein Mitarbeiter des Archivs der sozialen Bewegungen in Hamburg stellte die These auf, dass "Material an sich" gar nicht illegal sein kann. Texte werden in dem Moment, in dem sie (durch Polizei oder Justiz) konfisziert werden, illegalisiert. Für ein Archiv sei das aber kein Problem, weil dort auch illegalisierte Dokumente aufbewahrt werden dürfen. Im Archiv der sozialen Bewegungen in Hamburg werden nur öffentlich zugängliche Materialien erschlossen. Darüber hinaus gibt es auch gruppeninterne Materialien, doch da diese nicht erschlossen werden, weiß auch niemand genau, was sich darin verbirgt. Überlassungs- oder Nutzungsverträge mit MaterialgeberInnen existieren nicht. Aktiv eingeworben werden solche Materialien nicht. Da diese Konvolute durchaus sensibles Material enthalten können, sind sie nicht für die allgemeine Nutzung freigegeben. Vielmehr wird von Fall zu Fall entschieden, wer was einsehen darf; im übrigen vertraut man auf die Sensibilität der NutzerInnen. Der Springer-Presse wird die Nutzung generell verwehrt.

Das Archiv des Schwulen Museums

Im Archiv gibt es etliche Materialien aus der Pädophilenbewegung, die bis zur Missbrauchsdebatte Ende der 1990er Jahre in der Schwulen-Szene akzeptiert war. Während das politische Material der Pädophilenbewegung uneingeschränkt eingesehen werden kann, ist es bei Nachlässen und Sammlungen schwieriger, denn es kann sich zum Beispiel Kinderpornografie darin befinden. Da sich das Archiv bei der Nutzung dieser Materialien ständig in einer Grauzone bewegt, hat es dazu ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Vorsichtshalber werden die heiklen Dokumente unter Verschluss gehalten bzw. nur für wissenschaftliche Zwecke freigegeben. JournalistInnen bekommen keinen Zugang zu ihnen und generell ist jegliches kopieren, scannen oder fotografieren untersagt. Ein Unbehagen bei dieser Vorgehensweise bleibt allerdings, denn wo hört der Selbstschutz des Archivs bzw. des verantwortlichen Archivars auf und wo fängt die Selbstzensur an? Als Beispiel für diesen Eiertanz wurde der Umgang mit der Broschüre "Ein Herz für Sittenstrolche" geschildert, die die Schwulen in der Berliner Alternativen Liste 1983 veröffentlichten. Darin befinden sich Fotos, die aus juristischer Sicht als heikel bezeichnet werden können. Dennoch ist die Broschüre für die Nutzung freigegeben.

In der anschließenden Diskussion kamen weitere Problemfelder zur Sprache: wie geht ein Aufarbeitungsarchiv mit Stasi-Unterlagen um, die beim Stürmen einer Stasi-Zentrale entwendet worden sind und formal in ein offizielles Archiv gehören? Einige Frauenarchive berichteten von Unterlagen aus Frauenhäusern und von § 218-Kampagnen und illegalen Abtreibungsfahrten nach Holland - diese Materialien werden selbstverständlich unter Verschluss gehalten.

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Abschlussplenum

Moderation: Nina Matuszewski; Protokoll: Anne Vechtel

Wie weiter mit der Website www.bewegungsarchive.de? Welche Präsentationsformen und -inhalte wollen wir? Die AG Digitalisierung hat eine spontane Umfrage unter den teilnehmenden Archiven durchgeführt. Eine erste Auswertung ergibt, dass das Verzeichnis "Freie Archive", das von Cornelia Wenzel und Jürgen Bacia erstellt wurde, in die Site integriert werden soll. Die Liste Freier Archive, die am Netzwerk interessiert sind bzw. mitarbeiten, muss zudem erweitert und aktualisiert werden. Ein Serverwechsel steht zur Zeit nicht an. Ein digitaler Dokumentenserver ist zur Zeit zu ambitioniert.

Vorbereitung des nächsten Workshops:Der 7. Workshop wird Mitte Juni 2013 in Berlin stattfinden. Möglicherweise wird er an zwei Orten, dem Archiv Grünes Gedächtnis und dem Schwulen Museum, tagen können. Das Schwule Museum hat bis dahin einen neuen Standort mit Veranstaltungsraum. Die Vorbereitungsgruppe steht noch nicht ganz fest: AGG (Christoph, Anne), FFBIZ ? (Dagmar, Roman), Schwules Museum ? (Jens), Archiv³ ? (Eva).

Feedback zum 6. Workshop: Das Plenum Vorstellung der Archive war zu lang. Die Vorstellungen sollten sich auf aktuelle Erfahrungen, Entwicklungen und Probleme konzentrieren. Für den nächsten Workshop wird der Vorschlag gemacht, die Vorstellungsrunde zu teilen und an zwei Terminen durchzuführen.

Themenvorschläge für den 7. Workshop im Juni 2013:

  • AG Digitalisierung arbeitet weiter und wird ihre Ergebnisse präsentieren und diskutieren.
  • Zeitzeug/inn/engespräche in Archiven: Wie führe ich Gespräche bzw. Interviews? Wie mache ich sie für Nutzer/inn/en im Archiv zugänglich? Wie archiviere ich sie?
  • Produkte von Archivarbeit: Gemeinsame wissenschaftliche Tagung zu einem gemeinsamen Thema; eine gemeinsame Publikation, in der Dokumente mit Kommentar präsentiert werden; Veranstaltung zur Relevanz von Gegengeschichtsschreibung/Gegenöffentlichkeit heute. Autofocusvideowerkstatt hat so etwas bereits gemacht und an verschiedenen Orten in der BRD durchgeführt.

Pressearbeit 6. Workshop: Cornelia schreibt für Archivar; Anne für die FG 6 des VDA und versucht im Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen einen Tagungsbericht unterzubringen; Jürgen kontaktiert Contraste; Michael Götze kontaktiert indymedia; Simon und/oder Holger kontaktieren die Graswurzelrevolution.

Protokoll des 6. Workshops: Cornelia koordiniert und redigiert das Gesamtprotokoll. Im Protokoll wird noch einmal auf die Mailingliste "Freie Archive" aufmerksam und deutlich gemacht, dass nur diejenigen teilnehmen können, die sich bei Christoph Becker-Schaum melden, der die Liste moderiert. Kontakt: becker-schaum[at]boell.de.

Unterstützungserklärung für das Hans-Litten-Archiv: Günther hat eine Unterstützungserklärung vorbereitet, für die er die Teilnehmenden um eine Unterschrift bittet. Das Archiv hat im eigenen Verein große Legitimationsschwierigkeiten und möchte bei der nächsten Rote-Hilfe-Bundestagung die Erklärung mit unserer Unterstützung präsentieren. Einige Archive haben ihre Unterzeichnung bereits zugesagt. Andere werden intern diskutieren und danach entscheiden.

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